Unähnlichkeiten

„Schließlich aber drangen von überallher Geschäftsleute in den Stand der Berufsphotographen ein, und als dann späterhin die Negativretusche, mit welcher der schlechte Maler sich an der Photographie rächte, allgemein üblich wurde, setzte ein jäher Verfall des Geschmacks ein.“[1]

Reservist der preußischen Polizei. Carl Seegert, um 1875.
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Reservist der preußischen Polizei. Loescher & Petsch, 1869. ©akg-images

Zu Beginn der 1860er Jahre gewann die Porträtfotografie im Vistkartenformat (CdV) an internationaler Bedeutung und Popularität. Sinkende Herstellungskosten ermöglichten es einer breiten Masse der Bevölkerung sich fotografieren zu lassen. Nicht selten verweigerten anfangs Kunden wegen der angeblichen Unähnlichkeit des Bildnis die Bezahlung ihrer Fotos.[2] Die naturnahe Wiedergabe der Fotografie erschien – nach jahrhundertelanger Praxis der Idealisierung der Porträtierten in der Malerei – unglaubwürdig und unbefriedigend. Negativ- und Positivretusche ermöglichten es, die subjektive Wahrnehmung des Kunden und Fotografen in das Foto mit einfließen zu lassen.

Frau mit Hochsteckfrisur. A. Drawe, um 1885. ©akg-images

In einem Fotoratgeber von 1872 ließt man: „Bei Damen müsse man auf eine angenehme Ähnlichkeit, zumeist auf Schönheit im Bilde, bei männlichen Porträts auf Charakteristik sehen.“[3] Otto Buehler hingegen spricht in seinem 1869 erschienenem Buch ›Atelier und Apparat des Photographen‹, dem Hintergrund eine nicht unwesentliche Rolle zu. Es sei darauf zu achten „[…] die aufzunehmende Person in eine Umgebung zu versetzen, welche sie auf dem Bilde in schöner und würdiger Weise zur Erscheinung zu bringen geeignet ist. Einen Haupttheil dieser Umgebung stellt der sogenannte Hintergrund dar.“[4]

„Macht einmal jemand (einen Lichtbildner) darauf aufmerksam, daß er 60 Jahre zähle und nicht 30, daß er Furchen auf der Stirn und Falten am Kinn habe, hohle Wangen und Stumpfnase statt der griechischen, die ihm anretuschiert sei, dann wird ihm wohl die Antwort: „ Ach so, Sie wünschen ein ähnliches Bildnis! Aber das konnte ich doch nicht ahnen!“ kommentiert der Kunsthistoriker und erste Direktor der Hamburger Kunsthalle, Alfred Lichtwark 1894 das ‚Schönen‘ der Bilder. [5]

Mann mit Zylinder. L. Haase, um 1860. ©akg-images
Ausschnitt aus: Mann mit Zylinder. L. Haase, um 1860. ©akg-images
Kleinkind mit Hut. W. Höffer, um 1876.
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Ausschnitt aus: Kleinkind mit Hut. W. Höffer, um 1876. ©akg-images

Erst in einem Gerichtsurteil von 1877 wurde eindeutig festgelegt, wann „[…] von einem Mißlingen oder von einem ‚Nichtähnlichsein‘ des Bildes […]“ gesprochen werden kann. „Mißlungen sind diejenigen Photogramme zu bezeichnen, welche infolge einer, den Vorschriften der Technik oder der Chemie nicht entsprechenden Behandlung nachweisbare Schäden oder Fehler zeigen.“[6]

Das in den vorliegenden Porträtfotografien vor allem die Haare der abgebildeten Personen retuschiert und ergänzt wurden, mag auch mit der Bedeutung und dem Symbolwert des Haares zusammenhängen, das bereits seit biblischen Zeiten für die Lebenskraft steht. Kein Teil des Körpers ist im 19. Jahrhundert so präsent und findet so häufig Verwendung wie das menschliche Haar. Kunstvoll in Handarbeit gefertigte Schmuckstücke aus menschlichem Haar, als individueller Freundschafts- und Trauerschmuck, waren im 19. Jahrhundert sehr beliebt. In einer Epoche, die den Tod zelebriert und geprägt ist von der Angst der körperlichen Auflösung, haben gerade diese Haargegenstände einen stark persönlichen und emotionalen Bezug. Die erste deutsche Fotografin Bertha Wehnert-Beckmann (1815 – 1901) war Haarklöpplerin gewesen, bevor sie zur Daguerreotypistin wurde.

Haarbild mit frommem Spruch. Deutschland, 2. Hälfte 19. Jahrhundert. ©akg-images/ Interfoto
Haarbild mit Fotografie. Deutschland, um 1880. ©akg-images/ Interfoto
Fußnoten:
  • [1] Benjamin, Walter. 2012. „Kleine Geschichte der Photographie.“ In Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit: drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S.53)
  • [2] Vgl. Stenger, Erich. 1950. Siegeszug der Photografie.Chiemsee: Heering Verlag. S. 86f. Teilweise wurden diese Fotografien mit entsprechenden Kommentaren versehen und im Atelierschaufenster ausgestellt. Aus Angst vor Spott veranlasste das den Großteil der Kunden letztlich doch zum Kauf der Bilder.
  • [3]Zitiert nach: Stenger, Erich. 1950. Siegeszug der Photografie.Chiemsee: Heering Verlag. S. 87
  • [4] Buehler, Otto. 1869. Atelier und Apparat des Photographen. Weimar: Bernhard Friedrich Voigt. S. 53
  • [5] Zitiert nach: Stenger, Erich. 1950. Siegeszug der Photografie.Chiemsee: Heering Verlag. S. 87
  • [6] Zitiert nach: Stenger, Erich. 1950. Siegeszug der Photografie.Chiemsee: Heering Verlag. S. 87