Die menschliche Hybris.
Als 1839 in Frankreich die Daguerréotypie der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, wird sie gleich mit großer Begeisterung aufgenommen. Eine Stunde nach ihrer Vorstellung von der Akademie der Wissenschaft, waren die neue Kameras in alle Läden restlos ausverkauft. Der Französische Staat erwarb die Patentrechte und – wahrscheinlich die erste Open Source Aktion eines Staates – beschloss, sie der „Menschheit“ frei zur Verfügung zu stellen.
Leider war die von Louis J. M. Daguerre und Joseph Nicéphore Niépce entwickelte Daguerréotypie ein photographisches Verfahren, das nicht reproduzierbare und seitenverkehrte Unikate hervorbrachte. Da die Belichtungszeiten anfangs sehr lange waren (die erste fixierte Aufnahme von Nièpce, die sein Anwesen zeigt, wurde 8 bis 10 Stunde belichtet), waren sich bewegende Objekte kaum abbildbar. Die ersten Daguerréotypien mit einer halben Stunde Belichtungszeit zeigten meist Städtebilder auf der die Menschen nicht zu sehen sind, weil sie sich zu schnell bewegen.
Parallel dazu experimentierte William Henry Fox Talbot in England an der Kalotypie, ein Negativ/Positiv Verfahren, das die Reproduzierbarkeit einer Aufnahme erlaubte. Die Experimentierfreudigkeit der Photographen förderte immer bessere chemische Verfahren zu Tage, die kürzere Belichtungszeiten erlaubten.
In der Kunstwelt macht sich zeitgleich die Sorge breit, dass die Photographie den bildenden Künstlern den Broterwerb erschweren wird. Gleichzeitig bemängeln Kritker, „dass sie so streng getreu die Realität abbildet, dass sie die Grundidee, die sich jeder von der Schönheit macht, zerstören könnte.“ Die Bilder werden auch für ihren unnachgiebigen Realismus kritisiert, welcher die Illusion der Schönheit und der Jugend in der man sich bisher gewogen hat, zerstört.
Und in der Tat, erste Portraitateliers eröffnen ihre Türen. Sehr gut in der Kunstwelt vernetzt, startete 1851 der Karikaturist und Autor Félix Tournachon, genannt Nadar, ein Projekt, in dem er mit Hilfe seiner Mitarbeiter die berühmtesten Köpfe Frankreichs zeichnen möchte, und auch er benutzt bald die Photographie dafür.
Die berühmtesten Individuen der französischen Gesellschaft lassen sich bei ihm abbilden und aus den Photos Visitenkarten erstellen. Fast alle großen Komponisten dieser Zeit, sowie Schauspieler, Schriftsteller und auch Maler ließen sich photographieren. Manchen Bildern mutet ein Hang zum Narzissmus an und rufen ein leises Schmunzeln beim Betrachten hervor. Hätte es damals schon Selfies gegeben, hätten sie wahrscheinlich großen Anklang bei diesem Publikum gefunden. Auch Nadar hat sich selbst oft in Selbstportraits inszeniert.
In der Neuen Welt, in der es noch viel zu entdecken gibt, wird die Photographie auch als Medium benutzt, um das Unbekannte der Zivilisation und den Städter zur Schau zu stellen. Mathew Brady, ein Student von Samuel F. B. Morse – ein Pionier in der Anwendung der Daguerréotypie in Amerika – eröffnete sein erstes Studio 1844 in New York. Auch die amerikanischen Künstler und Politiker waren von der Erfindung fasziniert und ließen sich bei Brady ablichten, darunter auch Edgar Allan Poe. Als aber 1850 die Kollodium Nassplatten auf dem Markt kamen, ein positiv/negativ Verfahren auf Glasplatten – gibt es keinen Grund mehr, im Studio zu bleiben.
In 1861 bricht der Sezessionskrieg aus und wird (als erster Krieg in der Geschichte [das stimmt nicht ganz, siehe mein Kommentar]), photographisch von Brady festgehalten. Er benutzte fahrbare Studios und Dunkelkammern, um jederzeit nah am Geschehen zu sein (und weil das Kollodium Verfahren Schnelligkeit in der Entwicklung erfordert). Sowohl Tausende von Kriegsszenen als auch Portraits von Generälen und Politikern werden von Brady und seinen Assistenten erstellt.
Einzelne Photographen machen sich auf den Weg, um die Ureinwohner des Kontinents und das Leben in der Wildnis abzubilden. Darunter Edward S. Curtis, seine erste Aufnahme 1899 zeigt die Tochter eines Hauptlings in Seattle, sie wurde der Anfang einer Serie, die die umfangreichsten Photographien von Ureinwohner Nordamerikas werden sollte. Seine Aufnahmen strahlen eine unglaubliche Intensität aus, sie sind scharf und detailreich, die Blicke wirken wie ein Sog auf den Betrachter. Wenn auch der Hintergrund meist neutral – wie in einem Studio – gehalten wird, wirken sie nicht gestellt, vielmehr transzendiert die Neugierde des Subjekts in einer Anmut, die diese Personen unberührbar erscheinen lassen.
Die Vereinfachung der Laborverfahren, die Verkleinerung der Fotoapparate und schließlich die Geburt des Zelluloidfilms und seine Weiterentwicklung machten die Photokunst zur populären Kunst. „You press the button we do the rest…“ Millionen von Menschen wurden erst zu Portraitphotographen, dann zu „Knipsern“ und letztendlich zum vernetzten Selfie Produzenten. Die Photographie ist eine eigene Kunst geworden, hat auch, bedingt durch die Technik, jeder Epoche Ihre besondere Bildsprache geschenkt, und jeden Kamerabesitzer zum Künstler erhoben.
Immer wieder beschäftigten sich Photographen mit dem Abbild von Künstlern und Politikern. Frauen und Männer gleichermaßen. Eve Arnold, Alfred Einsenstaedt, Annie Leibovitz, Irving Penn, Kenn Duncan, Cindy Sherman, August Sander, Nan Goldin, Clarence Sinclair Bull, Herlinde Koelbl, Udo Hesse, um nur wenige zu nennen, alle durch ihre Arbeit mit Nadar verbunden. Beschäftigt damit, die Hybris des Menschen und dessen Antlitz einzufangen.
Weil jedem Portrait ein Hauch von Unsterblichkeit inne wohnt, dem Betrachter vielleicht auch erlaubt, über alle Höflichkeitskonventionen hinweg, jemanden unverblümt lange anzusehen, und um unsere instinktive Neugierde zu befriedigen, wird diese Gattung der Photographie uns auch in Zukunft mit immer neuem Material erfreuen.
Die Malerei hat ihren eigenen Weg gefunden, sich von der Realität zu emanzipieren, um sich stets neu zu erfinden, während die Photographie Schönheit in einem fortwährenden Prozess immer wieder neu definiert und die Menschen über Epochen hinweg mit einem Lächeln verbindet.