Erinnerungen an die Kindheit im ummauerten West-Berlin Teil 2

Hier gehts zum 1.Teil von Volkmars Erinnerungen an seine Kindheit in West Berlin

Auf unserer Webseite ist auch Volkmars Auswahl von Bildern zum Thema zu sehen

1989 lockerte die DDR die Einreisebestimmungen, Westberliner mussten nicht mehr ein Visum beantragen (dazu gab es bis dahin im Forum Steglitz eine Visastelle), sondern mussten zur Einreise nur noch einen kleinen Papierzettel ausfüllen, der gleich abgegeben wurde bei den jeweiligen Grenzern am Übergang. Irgendwie kam das Gerücht auf, dass die Zettel sofort im Papierkorb landen würden, durchaus vorstellbar zur damaligen Umbruchzeit, denn auch in der Friedrichstraße im sog. Tränenpalast wurde man nur noch gelangweilt durchgewunken und nicht mehr kontrolliert. Dann fiel die Mauer ganz, ich kletterte auf ausgeräumte Wachtürme bis oben aufs Dach, leider wieder ohne Fotoapparat, die historische Tragweite war mir mit 15 nicht so bewusst.

Ich wollte Schilder abschrauben wie “Sie verlassen West-Berlin” oder “Ende des amerikanischen Sektors”, bei uns im Süden waren die Amerikaner, in der Mitte die Briten, im Norden die Franzosen , andere sind aber schneller gewesen. Auf den Flohmärkten und vor dem Brandenburger Tor wurden Orden, SED-Parteiabzeichen, Pistolentaschen, ganze Uniformen angeboten, sowjetische Nachtsichtgeräte, Bajonette, mit denen man Zäune durchtrennen konnte, zum größten Teil noch unbenutzte Bestände. Wer die entsprechenden Kontakte hatte, hätte noch mehr besorgen können.

Wir erkundeten im Umland verlassene Übungsplätze der NVA, auf denen noch das eine oder andere Fahrzeug stand aber alles geplündert, beschmiert, Baracken ausgeräumt, teilweise angezündet, Gefechtsstände leer. Noch ein Jahr zuvor wäre es undenkbar gewesen, viele dieser Orte aufzusuchen. Davon gibt es irgendwo Fotos oder waren es erste VHS-C Videos… Entsorgte Trabbis, Wartburgs, am Straßenrand, im Wald, überall…Und sehr interessant: Die Panzersperren neben dem Übungsgelände, die verhinderten, dass man auf die Autobahn fahren konnte, bis Berlin-Wannsee waren es noch drei oder vier Kilometer, also zum Verhindern von Fluchtversuchen von DDR-Militärangehörigen.
Als dann irgendwann die Amerikaner abzogen, war es schon ein seltsames Gefühl, die einen mochten sie, die anderen nicht. Im Fernsehen hörte man je nach Einstellung des SFB Reporters “Schutzmacht”, “Siegermacht” oder “Besatzungsmacht” USA. Für die Älteren waren es die Besatzer, für mich gehörten die Amerikaner zu West-Berlin. Sie waren eine Konstante und plötzlich standen die Kasernen leer, wurden die Munitionsbunker im Grunewald zugeschüttet und bepflanzt, die Abhörstationen auf dem Teufelsberg und in Marienfelde waren plötzlich nicht mehr Sperrgebiet sondern verlassene Halb-Ruinen, in denen wir natürlich nach Interessantem suchten aber kaum noch etwas zum Mitnehmen fanden. Es war ein unbekanntes, fensterloses Gebäude und wir hatten nur eine Taschenlampe dabei, draußen war es dunkel, jederzeit konnte der Wachschutz kommen. Heutzutage würde ein “Betreten verboten”-Schild schon ausreichen mich fernzuhalten, damals machte das erst richtig neugierig. Und kaum waren wir wieder draußen, fuhr der Wachschutz vor. Berlins spannende Zeit im Zentrum des kalten Krieges war vorbei. Dass es vorher so war, wurde erst richtig klar, als es vorbei war. Die Zeit des Mauerbaus habe ich als 1975 Geborener natürlich nicht miterlebt, als der kalte Krieg Anfang der 60er Jahre ganz plötzlich heiß zu werden drohte und sich die Panzer an der Sektorengrenze gegenüberstanden, mitten in der Stadt, die Geschützrohre aufeinander gerichtet. Ebenso war die Luftbrücke 1948/49 Geschichte. Mein West-Berlin der 70er und frühen 80er Jahre war friedlich und vielerorts recht beschaulich. Denn die Panzer im Grunewald übten, die Patronen waren Platzpatronen, dass es plötzlich zum Ernstfall kommen würde, war mir unvorstellbar, es herrschte ein Gleichgewicht der gegenseitigen Bedrohung, das nicht kippen würde. Nichts deutete jedenfalls darauf hin und niemand machte sich ernsthaft Sorgen.

Nach der Wiedervereinigung trug der neue Ausweis den Bundesadler und war nicht mehr “behelfsmäßig”, an den Grenzübergängen konnte man ohne Kontrolle durchfahren, ebenso mit der S-Bahn nach Mitte fahren, alles sah noch nach DDR aus, doch mit massenhaft neuen Werbetafeln, Wahlplakaten, keine Kontrollen, keine Sperrzonen mehr.

Noch heute sehen im Osten Berlins einige Straßenschilder anders aus, die noch aus der DDR-Zeit stammen, sind noch alte Verkehrsschilder oder Laternen zu finden, auch wenn sich das meiste verändert hat, sind Spuren noch überall zu sehen, wenn man weiß, worauf zu achten ist.

In der Schule wurde nach der Wende mangels eines überarbeiteten Lehrplans noch der Systemvergleich DDR Bundesrepublik behandelt.

Die Eltern eines Freundes hatten plötzlich ein Grundstück in Erkner am Wasser mit kleiner Datsche, die Fahrt für uns dorthin ein Abenteuer und am Kiosk fragte die freundliche Verkäuferin, ob wir einen Plastebeutel haben wollten, Plaste! Das ging gar nicht! Auch “jetze” anstatt “jetzt”. Beides hört man heute kaum noch.

Mit der Wiedervereinigung war dann auch die Kindheit vorbei, ein Jugendlicher erkundete nun das verlassene Autobahnstück Dreilinden, stillgelegte Bahnhöfe im Umland.

Heute ist alles noch genauso interessant wie früher, doch betrete ich keine 20 Jahre leerstehende Kaserne im Halbdunkeln. Was nicht abgerissen wurde, ist inzwischen zu Wohnungen umgebaut worden, die meisten S-Bahn-Strecken modernisiert wieder in Betrieb.

Man bucht Führungen in Berlins Unterwelten oder zu Lost Places, wie es heute heißt. Fährt mit historischen Bussen, mit denen man damals zur Schule fuhr. Und wenn ich Filme aus den 70ern und 80ern sehe, die in Berlin spielen , denke ich: Nicht ganz so schön wie in meiner Erinnerung….aber schön!